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Themenachsen

Nach einer langen Phase der Dominanz der Psychoanalyse in den Geisteswissenschaften hat sich inzwischen ein Interesse für eine Wissensgeschichte der Psychologie etabliert, in der auch die Psychoanalyse selbst zu verorten ist. Zugleich wurde die literaturhistorische Bedeutung dieser Wissensgeschichte deutlich. Damit einher ging die Erkenntnis, dass das psychoanalytische Konzept des Unbewussten zwar einschlägig bleibt, um die Problematik einer Unverfügbarkeit des Selbst zu erfassen, dass aber eine große Varietät verwandter Konzepte besteht, die sich in eine spezifische Wissensgeschichte dieser Figur einordnen. Die Wahnsinns-, Halluzinations- und Traumtheorien der Mitte des 19. Jahrhunderts etwa heben den unwillkürlichen Charakter dieser Phänomene hervor und beschreiben eine Psyche, die sich in einander entgegengesetzte Seelenvermögen spaltet, darunter eine sich der Herrschaft des Willens entziehende Einbildungskraft. Die periodischen Amnesien und multiplen Persönlichkeiten des späten 19. Jahrhunderts wiederum zeugen von der Schwierigkeit, zur Dispersion tendierende Bewusstseinselemente wie Erinnerungsbilder oder Vorstellungen zu einer kohärenten Persönlichkeit zu vereinen. Die Psychoanalyse beschreibt ab 1900 dann ein strukturell gespaltenes Subjekt, das in unterschiedliche psychische „Instanzen“ unterteilt ist, deren Eigenschaften sich nun auch nach – ‚primitiverem‘ oder ‚kultivierterem‘ – psychischem Entwicklungsgrad unterscheiden. Die existenzialistische Psychiatrie der Mitte des 20. Jh. dagegen begreift das Subjekt als Situation, wobei dessen ‚In-der-Welt-Sein‘ eine Unsicherheit über die eigenen Grenzen beinhaltet, darunter nicht zuletzt die intersubjektiven. Mit der Humanistischen Psychologie der Nachkriegszeit tritt das selbstbestimmt-autonome, wenn auch sozial interdependente Individuum wieder in den Vordergrund – wird jedoch bald schon (etwa in der  Familientherapie der 1960er und 1970er Jahre) in kybernetisch inspirierten Modellen als Teil und Funktion systemischer Gruppenkonstellationen interpretiert.

Diese Momente einer psychologischen Theoriegeschichte lassen sich als eine von verschiedenen möglichen Wissensgeschichten des Subjekts. Durch alle Verschiebungen, Umstrukturierungen oder Brüche in der Geschichte psychologischen Wissens hindurch bleibt jedoch die Annahme konstant, dass das Subjekt, als Psyche, durch eine wesentliche Nichtidentität mit sich selbst gekennzeichnet ist. Angesichts der historischen Variabilität der Theoreme, in denen diese Annahme sich niederschlägt, lässt sich diese Denkfigur nur näherungsweise erfassen: als eine Unverfügbarkeit oder Unzugänglichkeit des jeweils ‚anderen‘ Teils (ggf. auch: der anderen Zustandsform) der Psyche, die vom Subjekt selbst als Machtlosigkeit im Selbstverhältnis und letztlich als Selbstverlust erfahren wird.

In der Geschichte des psychologischen Wissens bildet diese Denkfigur offenkundig eine Konstante. Betrachtet man sie aber, darüber hinaus, als Moment einer weiter zu fassenden Wissensgeschichte des Subjekts, rücken auch andere als psychologische Subjektkonzeptionen in den Blick – vor allem Gesellschaften als sich politisch selbstbestimmende Subjekte, die von den zugleich mit der Psychologie entstehenden Sozialwissenschaften beschrieben werden. Doch inwiefern wurden moderne Gesellschaften (oder Teile ihrer) als kollektive Subjekte gedacht, die vom gleichen Unverfügbarkeitsmuster wie die psychologischen geprägt sind? Deutlichstes Anzeichen für die Existenz einer entsprechenden Subjektfigur ist sicherlich die von der Mitte des 19. Jh. bis in die Gegenwart anhaltende Faszination für die Psychologie und die Formierungsgesetze von Menschenmengen. Deren Beunruhigungsvermögen geht davon aus, dass sie ein autonomes Subjekt zu bilden scheinen, das sich dennoch selbst nicht beherrscht. Auf die Massenthematik lässt sich diese Frage jedoch nicht begrenzen; auch der politischen Selbstregierung stellt etwa der Soziologe Alfred Espinas schon im späten 19. Jahrhundert das Zeugnis aus, zumindest in Teilen von „Spontaneität“ und „Unbewusstheit“ geleitet zu sein. Der Annahme folgend, dass solche Unverfügbarkeitsfiguren sich nicht nur, wie diejenigen der Psychologie, mit der Zeit wandeln, sondern im Kontext verschiedener Einzelwissenschaften auch unterschiedliche Formen entwickeln, soll das Netzwerk die Geschichte dreier ‚Kollektivwissenschaften‘ genauer untersuchen: die der Soziologie als Frage nach der Selbstregierung auf der Basis von Selbst-Wissen, die der Ethnologie als Frage nach dem Ursprünglichen oder ‚Primitiven‘, das in modernen Gesellschaften fortlebt, und die der Kulturwissenschaft als Frage nach den unerklärten Formen des kollektiven Selbstausdrucks in Bräuchen, symbolischen Formen und Künsten. Dass alle diese Fragestellungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch in einer „Völkerpsychologie“ vereint waren, gibt die Beziehungen dieser drei Wissenschaften nicht nur zueinander, sondern auch zur Psychologie zu erkennen.

Das Netzwerk verfolgt daher das Ziel, die Figur des sich selbst unverfügbaren Subjekts in der Geschichte der Soziologie, der Ethnologie und der Kulturwissenschaften in deren Wechselbeziehungen mit der Geschichte der Psychologie zu untersuchen. Dabei hat es zugleich die besondere Rolle literarischen Wissens im Blick, das die figurativen und imaginären Dimensionen entsprechender Subjektfiguren auslotet und zugleich Querverbindungen zwischen den hier aufgerufenen Wissenskontexten herstellt. Konkret aufgliedern wird sich die Netzwerkarbeit in die folgenden Themenachsen.